K. Postoutenko (Hrsg.): Totalitarian Communication

Titel
Totalitarian Communication. Hierarchies, Codes and Messages


Herausgeber
Postoutenko, Kirill
Reihe
Kultur- und Medientheorie
Anzahl Seiten
316 S.
Preis
€ 33,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Inge Marszolek, FB9 Kulturwissenschaften, Universität Bremen

Das vorliegende Buch ist entstanden aus einer gleichnamigen Tagung, die 2009 an der Universität Konstanz stattfand. Die Beiträge des Buches sind interdisziplinär, geschrieben aus politikwissenschaftlicher, soziologischer, historischer, linguistischer und psychologischer Perspektive. Zunächst irritiert der Begriff „Totalitarian Communication“, den man wohl eher mit älteren Vorstellungen über Propaganda in Diktaturen verbindet. Doch genau dieses Konzept soll überwunden werden: Kirill Postoutenko entwirft in seiner Einleitung ein Forschungsdesign, dass sich ausdrücklich an einem Konzept des „Beyond Totalitarianism“, wie es Fitzpatrick und Geyer 2009 vorgeschlagen haben1, orientiert. Aus kommunikationsgeschichtlicher Sicht bedeutet dies zunächst zweierlei: Die Unterschiede zwischen totalitären Systemen und nicht-totalitären sind nicht dichotomisch, sondern bewegen sich auf einer Skala: Hier ist der Hinweis auf demokratische Systeme mit einer starken Exekutive („New Deal“ in den USA) ebenso angebracht wie – und dies fehlt in den Beiträgen – auch auf die Veränderungen der Kommunikation zwischen Herrschaft und Gesellschaft in Demokratien in Kriegszeiten. Entsprechend berücksichtigen die Beiträge neben den Vergleichen Stalinismus/Nationalsozialismus auch Vichy-Frankreich wie – in nur einem Beitrag – junge Demokratien (Kirgistan). Postoutenko postuliert, dass totalitäre Kommunikation nur eine Sonderrolle von Kommunikation sei, dass sie nicht beschränkt auf Kommunikation innerhalb des Herrschaftsapparats sondern auch verankert sei in der politischen Organisation der Gesellschaft. Nun ist dies so neu nicht, wenn man an die Arbeiten von Rainer Gries und Wolfgang Schmale oder Thymian Bussemer2, aber auch der Cultural Studies (Stuart Hall und andere) denkt. Für den Nationalsozialismus ebenso wie für die DDR liegen hier auch zahlreiche medienhistorische Arbeiten vor, die eine deutliche Abkehr von dem Bild einer „Einbahnstraßenkommunikation“ zwischen dem politischen Apparaten und der Bevölkerung zeigen.

Die einzelnen Beiträge, die hier nicht alle vorgestellt werden, bieten allerdings ein facettenreiches Bild von kommunikativen Praktiken und asymmetrischen Öffentlichkeiten in Diktaturen, wobei der Schwerpunkt der Beiträge auf der ehemaligen Sowjetunion liegt. Anregend wird der Band aber durch die Einbeziehung von Beispielen aus den USA, Frankreich, Großbritannien, einem Überblick über Diskurse zu Folterungen (von der Antike bis zu den Anschlägen am 11. September 2001 in den USA) etc. Das heißt, sowohl der Zeitraum wie auch die Länderbeispiele sind weitgespannt. Man kann dies kritisieren (diese Kritik ist bei der Besprechung von Tagungsbänden ja verbreitet), doch – und das möchte ich für diesen Band betonen – kann Vielfalt auch sehr anregend sein.

Lorenz Erren, Historiker und Bibliothekar am Deutschen Historischen Institut in Moskau, gibt im ersten Teil, überschrieben mit „Hierarchies“, einen Überblick über die kommunikativen Praktiken und Formen von Öffentlichkeit im Stalinismus. Erren betont, dass Herrschaft sich grundsätzlich über Kommunikation herstellt, im Stalinismus hier Formen geschaffen wurden, die die physische Präsenz der Beherrschten erzwang. Diese Formen sind unter dem russischen Begriff ‚Obshchestvennost‘ (eine Übersetzung wäre gut) zusammengefasst. Errens These ist, dass Stalin eine neue Form von Öffentlichkeit schuf, die ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert hatte. Wesentliche Elemente dieser Öffentlichkeit waren die permanenten Versammlungen auf allen Ebenen der Institutionen und des Apparats. Ausgehend von den Städten erstreckte sich dieses Geflecht von Versammlungen bis in die ländlichen Regionen und schuf ein System von Schein- oder Ersatzpartizipation. Zugleich war es möglich, über die Formen von Partizipation auch Inklusion und Exklusion zu regeln (Recht zu wählen etc.). Die öffentlichen Versammlungen waren zugleich Disziplinierungsmöglichkeiten, gerade in den 1930er-Jahren boten diese für den Zugriff des sowjetischen Geheimdienstes NKWD bzw. für die Definition von Staatsfeinden und deren Anklage (bzw. erzwungener Selbstanklage) eine Bühne. In seinem Schlussresümee kommt Erren zu einer interessanten These: Er fragt, ob die Behauptung von Forschern, dass der „Große Terror“ auch auf einer Selbstmobilisierung von unten beruhte, nicht eine beunruhigende Weiterschreibung der kommunikativen Praktiken des Stalinismus bedeute, der eben diese Selbstmobilisierung durch den ‚Obshchestvennost‘ in Permanenz etablierte. Des Weiteren weist er darauf hin, dass es hier nicht um eine Form der Etablierung eines auf rational-ökonomischen Entscheidungen beruhenden Systems ging, sondern um eine Bühne für Stalin „das archaische Melodram der Politik“ (S. 59) zu performieren.

Kirill Postoutenko untersucht in seinem Beitrag zur Performance der politischen Führer in der Sowjetunion, in Deutschland und in den USA im Jahr 1936 die Reden von Hitler, Stalin und Roosevelt. Er kommt auf der Basis einer linguistischen Analyse zu dem Schluss, dass Roosevelts Reden bestimmt sind vom Aushandeln seiner politischen Ziele und eher einer Baustelle glichen, die von Hitler den Ansprachen in einem Stadium, die von Stalin in einem Mausoleum.

Im Teil „Codes“ analysiert die Kunsthistorikerin Nanni Baltzer die Lichtinstallationen des italienischen Faschismus als Element der Sakralisierung. Die Lichtschrift zur Feier des Marsches auf Rom vor dem Dom in Mailand und die Inszenierung der Masse auf dem Platz brachten sowohl die Feier des Faschismus als auch die Masse selbst zur Geltung und waren darüber hinaus, so Baltzer, eine Kampfansage an die katholische Kirche. Jurij Murašov untersucht Maxim Gorkis Projekt „Literaturnaja ucheba“, das einfache Arbeiter zur Produktion von Literatur ermuntern sollte. Murašov sieht hierin ein Beispiel dafür, dass es gerade die Modi und Logiken der entstehenden Massenmedien Radio und Film waren, die vom sowjetischen System beeinflusst und verändert wurden. Einen höchst interessanten und bisher in der Mediengeschichte wenig fokussierten Aspekt behandelt Dmitri Zakharine in seinem Beitrag zu den auditiven Medien im Dienste des totalitären Staates. Er beschäftigt sich mit der Bedeutung und Wirkung des Sounds. Ausgehend vom Klang von Kirchenglocken zeigt er deren hohe Symboltracht. In der Sowjetunion ersetzten die nunmehr ideologisch aufgeladen Fabriksirenen und die Geräusche der industriellen Produktion die Kirchenglocken. Dies wurde dann in den sowjetischen Tonfilmen weitergeführt und mit animistischen Elementen erweitert. Interessant ist, dass die andere Seite dieser Tonproduktionen die wissenschaftliche Nutzung war, bis hin zur Entwicklung von „sonic weapons“, die zur Kontrolle sozialen Verhaltens eingesetzt werden sollten. In diesen Experimenten sollten die Grenzen zwischen Ästhetik und Wissenschaft bzw. zwischen Religion und Physik ebenso wie die zwischen Individuum und Kollektiv aufgelöst werden.

Im dritten Teil „Messages“ entwirft Alexander Hanisch-Wolfram ein vergleichendes Forschungsdesign zur Propaganda mit den Methoden der Diskursanalyse. Er geht zunächst von einer relativ weiten Definition von Propaganda aus, in dem Propaganda das Ziel einer Konstruktion von kollektiver Identität habe. Des Weiteren benennt er unterschiedliche Dimensionen von Propaganda (Mythen und Rituale, Zeichen und Symbole, die Konstruktion des Anderen, Konstruktion einer gemeinsamen Vergangenheit und die Personalisierung von Propagandaelementen). Die kritische Diskursanalyse biete, so Hanisch-Wolfram, eine gute Möglichkeit, diese Dimensionen in ihren Überlappungen und Geflechten zu analysieren. Eine wichtige Voraussetzung ist, dass die Adressaten überzeugt werden müssen, dass sie aus freien Stücken an der Konstruktion der kollektiven Identität teilhaben. Hanisch-Wolfram elaboriert diesen Ansatz am Beispiel der propagandistischen Mythen im Vichy-Frankreich und in Österreich und zeigt, dass zum Erfolg von diskursiven Strategien auch gehört, dass diese in vorhandenen tradierten Werten, Sozialstrukturen und Überzeugungen fundiert sein müssen. Hanisch-Wolfram beschränkt bedauerlicherweise seinen Ansatz auf Textformen, dabei bieten sich visuelles Material wie zum Beispiel Text-Bilder-Kombinationen gerade auch für eine diskursanalytische Analyse von Propaganda an.

Einen Überblick zur Kommunikation über Folter und deren Bedeutungswandel in verschiedenen Systemen bietet Werner Binder. Er zeigt nicht nur, wie unterschiedliche kulturelle Codierungen von Folter verschiedene Phantasmen aber auch Bewertungen von Wahrheit und Schmerz hervorbringen, sondern auch, wie verschiedene Formen von Kommunikation unterschiedliche Botschaften produzieren und damit differente soziale Funktionen war nehmen. John Richardson analysiert, wie in der britischen Zeitung „Reality“ vor dem Zweiten Weltkrieg Versatzstücke der faschistischen Ideologien verbreitet wurden. Dabei wandelten sich die Botschaften von der Ideologie der radikalen Rechten hin zum Faschismus.

Der vierte Abschnitt ist überschrieben mit „Post-totalitarian Communication?“. Die Psychologin Irina Wolf untersucht die kirgisische Presse, die zwar privatwirtschaftlich organisiert ist, aber trotzdem nicht unabhängig von der Regierung ist. In einem exemplarischen Vergleich mit der Berichterstattung der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und der „British Times“ über ein Selbstmordattentat in Kirgisien macht sie große Unterschiede aus. Ihr Beitrag bietet einen ersten Einblick in ein größeres vergleichendes Forschungsprojekt und ist nicht geeignet, um daraus schon Verallgemeinerungen abzuleiten.

In einem abschließenden Kommentar resümiert Andreas Langenohl die Ergebnisse der Konferenz bzw. des Buches und betont die notwendige Trennung von totalitärer Kommunikation und Totalitarismus. Allerdings frage ich mich, wieso hier explizit an dem Begriff Totalitarismus noch festgehalten wird, ist doch mit diesem Begriff eben die totale Penetration aller gesellschaftlichen Bereiche durch den Staat verbunden. Dass dieses Bild offenbar weder auf den Nationalsozialismus noch auf den Stalinismus zutrifft, zeigt sich sofort, wenn Perspektiven von oben nach unten aufgelöst werden. Dieser Befund gilt für das Verhältnis von Herrschaft und Gesellschaft insgesamt. Dass Kommunikation oder mediale Systeme eben nur in komplexer Weise funktionieren, zeigt dieser Band einmal mehr. Kritisch anmerken möchte ich, dass visuelle Medien hier nur sehr selektiv überhaupt behandelt werden. Das ist umso bedauerlicher, als es gerade im 20. Jahrhundert Bilder (Fotos, Plakate, Filme etc.) waren, die in den Dienst der Diktaturen gestellt wurden und auch wirkungsmächtig waren.

Anmerkungen:
1 Michael Geyer / Sheila Fitzpatrick (Hrsg.), Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compared, Cambridge 2009; vgl. die Rezension von Claudia Weber: Rezension zu: Fitzpatrick, Sheila; Geyer, Michael (Hrsg.): Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compared. Cambridge 2009, in: H-Soz-u-Kult, 25.08.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-3-154> (30.01.2011).
2 Rainer Gries / Wolfgang Schmale (Hrsg.), Kultur der Propaganda. Überlegungen zu einer Propagandageschichte als Kulturgeschichte, Bochum 2005; Thymian Bussemer, Propaganda. Konzepte und Theorien, Wiesbaden 2005; vgl. zu beiden die Sammelrezension von Jochen Voit in: H-Soz-u-Kult, 25.08.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-3-117> (30.01.2011).

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension